Zeitalter, Menschen und die Romanfiguren des Goldenen Apfels

Viele Kriege, Seuchen, Armut und Hunger, grausame Strafen, religiöse Intoleranz, Aberglaube, absolutistische Willkür, unüberbrückbare Standesunterschiede, rücksichtslose Ausbeutung der Mittellosen, insbesondere der leibeigenen Bauernschaft. So lassen sich die schlimmen Seiten des ausgehenden 17. Jahrhundert charakterisieren. Bei all dem Negativen dieser Epoche ist jedoch eines zu bedenken. Sie ist weniger grausig als die vorangegangene, die unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieg litt. Die pessimistische Abkehr von der Welt, die sich in den Gedichten des Andreas Gryphius findet, geht zu Ende. Da mag beim einen oder anderen die Vorstellung aufgekommen sein, dass sich die Dinge zum Besseren gewendet haben.

Die Kriege dauern nicht mehr so lange, selten werden ganze Landstriche verwüstet. Die Welle der Hexenprozesse ist abgeebbt, die Lebensmittelversorgung besser, in der Rechtsprechung und im Strafvollzug ist eine gewisse Mäßigung und Milderung eingetreten. Und die Wissenschaften machen beachtliche Fortschritte. Es wird geforscht, gerechnet und technisches Gerät gebaut. Mikroskop und Fernrohr sind bereits erfunden, der Makro- und der Mikrokosmos näher gerückt. Trotzdem müssen die Lebensumstände für viele bedrückend gewesen sein. Wie hat sich das im Denken und Handeln der Menschen niedergeschlagen? Waren sie lauter, stiller, ängstlicher, mutiger, geduldiger, aufbrausender als wir?

Vermutlich waren sie das alles und mehr. Kriege und andere Katastrophen, unerwartete Todesfälle, eine hohe Sterbensrate bei den Kindern, das Ertragenmüssen körperlicher Schmerzen und peinigender Aberglaube werden ihre Spuren hinterlassen haben. Dazu kam wohl ein gehöriger Schuss Unvernunft, der unter anderem in einer protzigen, extrem unpraktischen Mode seinen Niederschlag findet. Männer von Stand schwitzen unter mächtigen gelockten Perücken, in denen nicht selten Ungeziefer nistet. Die vornehmen Damen schneiden sich den Atem mit Korsetten aus Fischbein ab, pudern das Haar schwarz und tragen dick Schminke auf. Allgemein groß ist die Tendenz sich zu zeigen und heraus zu putzen.

Ein interessantes Sittenbild ist aus den Wiener Gotteshäusern dieser Zeit überliefert. Dort werden die Sonntagspredigten wie Bühnenauftritte von Buhen, Klatschen und Lachen begleitet, nebenbei neue Kleider vorgeführt und amouröse Treffen vereinbart. Kurios: Zwischen den großen Ordenskirchen läuft ein ständiger Wettbewerb, wer den besten Prediger stellt. Unumstrittene Nummer eins für lange Zeit ist der Augustinermönch Abraham a Santa Clara, der in volkstümlich derben Worten die moralischen Missstände seiner Gemeinde geißelt. Die aufziehende Türkengefahr empfindet er als Strafe Gottes für die vielen begangenen Sünden. Dieser Meinung ist auch der Kaiser. 1683 veranstaltet er einen Buß- und Betmarathon, dem sich alle anschließen sollen.

Streitlust und Gewaltbereitschaft sind in allen Schichten der Gesellschaft stark ausgeprägt, anders lässt sich die große Zahl an Raufhändeln, Totschlägen und Rechtsstreitigkeiten nicht erklären. Die aufgezeichnete Redewendung toll und voll stellt einen Bezug zum gewohnheitsmäßig hohen Alkoholkonsum her. Wein wird wie Wasser gegen den Durst getrunken. Im Wiener Bürgerspital stehen jedem Pensionär täglich zweieinhalb Liter Wein zu. Unmäßig sind auch die Eßgewohnheiten. Wer es sich leisten kann, schlägt sich den Bauch mit Gebratenem und Gebackenem voll. Bei dem enormen Fleischverzehr verdienen die Ärzte dickes Geld mit der Behandlung der vielen Gichtkranken, für die sie allerdings – wie für die meisten anderen Patienten auch – kein probates Heilmittel haben. In Ermangelung eines besseren Krankheitsverständnisses hält die Medizin weiter an der Viersäftelehre der Antike fest. Einer Art Ganzheitsmedizin auf spekulativer Grundlage. Gut waren die anatomischen Kenntnisse. Entgegen der häufig gehörten Meinung, es wäre damals kaum seziert worden, gehörten Leichenöffnungen im Theatrum anatonicum in Wien zur ärztlichen Routine und Fortbildung.

Drollig muten manche Vorstellungen über das Entstehen von Krankheiten an. An der Zahnfäule trägt der Zahnwurm Schuld, am Sodbrennen der Herzwurm, der den Schlund beseicht (bepisst) und Skorbut entsteht durch die schlechten Dämpfe auf See.

Aus Mangel an Wissen und wegen der geringen Zahl Gebildeter wird beinahe jeder Unsinn geglaubt.

Und wie sieht es mit der Lebensfreude und Zufriedenheit in diesen Tagen aus? Ein großes Plus ist der die Gesellschaft durchdringende Solidaritätsgedanke und der Wunsch nach Gemeinschaft. Wer Familie hat, findet in ihr Halt und Geborgenheit. Wer ein Handwerk betreibt oder ein Gewerbe ausübt, gehört automatisch einer Zunft oder einem Gremium an, die sein Berufsleben organisieren und im Bedarfsfall für ihn einspringen. Im Fasching (Karneval) organisiert jede Zunft ihren eigenen Umzug, was ihren Berufsstolz unterstreicht. Daneben existieren eine Vielzahl geistlicher und weltlicher Bruderschaften, Kloster- und Schulgemeinschaften, Studentenbursen und permanenter Versammlungen. Allen gemeinsam ist, dass sie die Interessen und Ambitionen ihrer Mitglieder vertreten und Ordnung ins Chaos bringen wollen. Beim Lesen diverser Aufzeichnungen kann man sich des Eindrucks nicht erwähren, dass hier ein urwüchsigerer Menschenschlag am Werke ist, der seine Gefühle ungebremst auslebt. Heutzutage erregt ein laut lachender oder weinender Mensch Aufsehen. Damals gilt es beim einfachen Volk eher als Norm, Tränen ungehindert fließen zu lassen. Es wird mehr geschrien, geklagt, geflucht und gelacht. In den Gassen geht es laut und lustig zu. Psychotherapeuten würden ein solches Verhalten als Seelenhygiene bezeichnen und auf die wunderbaren Mittel der Beichte und Buße verweisen, die den Menschen Erleichterung bei großen und kleinen Sünden verschaffen.

Die Kehrseite des recht ungezwungenen Benehmens ist mangelnde Selbstbeherrschung in einer extremen Situation wie es die Belagerung durch einen übermächtigen Feind darstellt. Da schlagen dann – wie man heute sagen würde – bei vielen die Sicherungen durch.

Zurück zum Goldenen Apfel. Im Manuskript werden Namen, Begriffe, Ausdrucksweisen und Redewendungen aus späteren Zeiten tunlichst vermieden, die bedachte Wortwahl soll die Handlung mit der Schicht Patina, die ein historischer Roman braucht, überziehen. Bei der Gestaltung der Romanfiguren haben die oben ausgeführten Überlegungen sozusagen Pate gestanden. Deshalb soll sich der Leser nicht über ihre manchmal extrem wirkenden Verhaltensweisen wundern. Sie sind durchaus beabsichtigt.

Reale historische Personen sind nach ihren Biographien gezeichnet. Dabei wurde besonderes Augenmerk auf eine lebensnahe Beschreibung gelegt. Es wäre ja völlig falsch, ihnen bei der belletristischen Illustration Eigenschaften zuzuordnen, die sie in Wahrheit nicht besessen haben. Kaiser Leopold beispielsweise bleibt der ängstliche Zögerer wie ihn seine Zeitgenossen kennen und Heerfüher Karl von Lothringer der brummige Phlegmatiker.

Mehr Spielraum geben die nur lückenhaft dokumentierten türkischen Protagonisten. Auf die völlig einseitige Darstellung Kara Mustafas, die sich auf keine glaubwürdigen historischen Quellen stützt, wurde bereits verwiesen.

Bei der Zeichnung der fiktiven Personen besteht die einzige Einschränkung in ihrer zeitlichen Gebundenheit. Sie dürfen alles tun und lassen, so lange sie glaubhaft sind. Deshalb werden gute zwei Drittel der Handlung von ihnen getragen. Der Hauptprotagonist Konrad Breitenbrunner ist vom Typ des unbedeutenden großen Helden. Er löst den Krieg mit den Türken nicht aus, kämpft aber so verbissen, dass er seinem Ziel, an ihnen Vergeltung zu üben, nahe kommt.

Noch ein Wort zum Türkenbild im Buch. Es lag in der Absicht des Autors ein objektives Bild der Kriegsgegner zu zeichnen. Dass christliche Protagonisten ihren Hass oder ihre Verachtung gegenüber dem Feind zum Ausdruck bringen, ist handlungsinhärent und drückt keine persönliche Meinung des Authors aus. Es finden sich Passagen, in denen der tolerante Umgang mit Christen und Juden angesprochen wird und eine ziemliche lange Szene, in denen sich der friedliebende Großmufti (Scheich ül Islam) zunächst weigert, ein Rechtsgutachten für den Dschihad auszustellen. Die Christen bedrohen unsere Glaubensgemeinschaft nicht, meint er zu Kara Mustafa, der den heiligen Krieg als reines Mittel zum Zweck ansieht.