Prolog

Nach dem Sieg bei Mohács über die Ungarn im Jahre 1526 eroberte Sultan Süleyman der Prächtige weite Teile Ungarns und belagerte 1529 Wien. Zum Schutz seiner Erblande im Süden begann Erzherzog Ferdinand I., Bruder des deutschen Kaisers Karl V., mit der Errichtung einer Militärgrenze aus befestigten Städten, Burgen und Wehrdörfern von der Drau bis zur adriatischen Küste. Besiedelt wurde dieser neuzeitliche Limes mit Serben, Kroaten und Deutschen. Aus ihnen erwuchs ein kriegerischer Bauernstand, der fortan das Hinterland gegen türkische Raubüberfälle schützte und im Krieg Militärdienst leistete. Im Gegenzug erhielten sie Land, Steuerfreiheit und das Recht auf freie Religionsausübung.

Wegen dieser Privilegien zog Ignaz Breitenbrunner im Jahre 1618 von Süddeutschland an die kroatisch-türkische Grenze. Er entging dem Dreißigjährigen Krieg und fand was er suchte. Ein Leben, in das einem keiner dreinredete, solange man seine Pflicht tat. Kurz vor Ignaz Breitenbrunners Tod gebar seine Schwiegertochter im Jahr 1650 Zwillinge, die einander so ähnlich waren, dass die eigene Mutter am nächsten Tag nicht sagen konnte, wer von den beiden als erster das Licht der Welt erblickt hatte.

Zwölf Jahre später glichen sich die Knaben immer noch bis aufs Haar. ´Aus dem selben Ei geschlüpft`, sagten die Leute im Dorf oder ´wie ein linker und ein rechter Schuh`, wenn sie nebeneinander herliefen. Man sah sie nur gemeinsam und meistens redete einer für alle zwei.

An einem Augustnachmittag des Jahres 1662 verließen sie mürrisch das Haus. Sie sollten Pilze für das Abendgericht sammeln. Pilzesammeln, Beerenbrocken und Gänsehüten gehörten nicht mehr zu ihren Aufgaben. Dafür war Maria, ihre jüngere Schwester, zuständig. „Euer Pech“ hatte die Mutter gesagt „dass sie krank im Bett liegt“ und dazu gelacht.

Sie gingen mit einem leeren Korb im Arm und einer Pistole im Gürtel durch die Dorfgasse. Anderswo im Reich wären sie mit den Pistolen nicht weit gekommen, weil die Obrigkeit den einfachen Leuten das Waffentragen verbot. Nicht so an der Grenze. Dies war ein Wehrdorf mit einem Wall aus dicken Palisaden und zwei gemauerten Toren. Einem Mann der unbewaffnet auf sein Feld oder in den Wald wollte, hätte die Torwache auf sein Versehen aufmerksam gemacht und um Pistole und Säbel geschickt.

 

Vor dem Südtor lungerte die Dorfjugend am Bach herum. Einige fischten, die anderen plantschten im Wasser oder trockneten sich auf den Steinen.

Die Brüder versuchten unbemerkt vorbei zu kommen. Aber der Nachbarjunge sah sie und zeigte auf die Körbe.

„Seht euch die zwei Jungfern an“, schrie er, „gehen auf den Markt einkaufen“.

Es fielen weitere spöttische Bemerkungen, die sie allesamt ignorierten, mit einem Korb in der Hand ließ sich nichts gewinnen.

Sie hüpften von Stein zu Stein zwischen den Badenden hindurch, bekamen einige Spritzer ab, murmelten Racheschwüre und zuckten zusammen, als sie die hübschen Bäckerstöchter Alenka und Ester unter den Lachenden sahen. Mit ihnen hatten sie vor drei Tagen am dunklen Dorfplatz Küsse getauscht und ohne die verdammten Körbe wären sie jetzt sicher mitgekommen.

Zerknirscht aber nicht würdelos stapften sie die Wiese zum Waldrand hinauf.

„Die kriegen das zurück“, stellte Michael fest.

Konrad nickte nur zustimmend. Die Sache war klar und sie waren sich wie immer einig.

Josef, der schwachsinnige Schafhirte, kam ihnen mit einem Lamm unter dem Arm grinsend entgegen.

„Halt Obacht, Josef“, sagte Konrad mit warnend erhobenem Zeigefinger. „Ein hungriger Wolf treibt sich im Tal herum!“

„Und die Türken, hehehe. Hab´ welche gesehen auch unten im Tal.“

„Die mit den grünen Gesichtern?“

„Ja, hehehe.“

„Dann spring ins Dorf hinunter und melde es der Wache!“, sagte Michael ebenfalls lachend. „Lauf!“

Josef schüttelte den Kopf und wies mit der Hand auf seine Schützlinge, die bähend in kleinen Gruppen die Wiese hinauf zogen.

In der gutmütigen Art großer Jungen, die sich schon wie halbe Männer fühlten, unterhielten sie sich noch kurz mit dem stets freundlichen Narren, bevor sie pfeifend weitergingen. Die Sache mit Alenka und Ester ließ sich einrenken, wenn sie ihnen Brombeeren mitbrachten.

In einem lichten Eichenhain stießen sie auf eine Kolonie frischer Steinpilze, mit denen sie ein lustiges Zielschiessen in die abgestellten Körbe begannen. Manchmal kam so ein Pilz von der Flugbahn ab und landete auf dem Kopf des Bruders, was beide ungemein erheiterte. Lustig war es auch, einen Pilz mit den Zehen zu fassen oder gleich mit einem Tritt in einen   Korb zu befördern. Trotz des Massakers wurden die Körbe schnell voll und weil die Mutter sie nicht vor dem Abend zurück erwartete, nahmen sie auf dem Rückweg eine Rehfährte auf. Die führte an einem Gestrüpp mit großen schwarzen Brombeeren vorbei. Konrad ging vorsichtig, um sich an den Dornen nicht zu verletzen, zwei Schritte hinein.

„Au, verdammtes Biest!“

„Hat dich eine Schlange gebissen?

„Ja.“

„Ich seh sie! Eine große Hornviper!“

Konrad setzte sich auf den Boden und rieb sich den nackten Fuß, während Michael rachedurstig mit dem Ast im Gestrüpp stocherte.

„Die ist weg! Schneid die Stelle auf!“

Michael machte mit dem Messer einen tiefen Schnitt über dem Knöchel. Es kam reichlich Blut, der Unterschenkel schwoll trotzdem an. Also zog er die Hose herunter und pinkelte auf die Wunde.

Als die Schwellung übers Knie ging und der Fuß taub wurde, beschlossen sie, Hilfe zu holen. Michael lief ernsthaft besorgt los, rannte wie ein Teufel die Wiesen hinunter und blieb auch nicht stehen, als ihm der Hut vom Kopf flog. Beim Wäldchen am Bach hielt er kurz an und winkte hinauf.

Konrad lehnte sich zurück. Hilfe würde bald da sein. Wahrscheinlich kamen sie binnen einer Stunde mit dem Karren herauf, damit er das vergiftete Bein nicht bewegen musste. Während er wartete, setzte die Dämmerung ein. Beine und Arme waren taub geworden und sein Kopf drehte sich wie ein Kreisel.

 

Verschwitzt und zitternd erwachte er in der Morgendämmerung aus einem fiebrigen Koma. Vom Gift noch betäubt trat er auf wackeligen Beinen den Heimweg an, ohne sich Gedanken über den Bruder oder die Tatsache zu machen, dass ihn keiner geholt hatte. Alles was ihn beschäftige waren die Schmerzen im Fuß und der quälende Durst. Im Wäldchen ließ er sich in den Bach fallen und soff wie ein Pferd. Als er sich aufrichtete, setzte sein Verstand wieder ein. Mindestens einen, vielleicht auch zwei Tage, hatten sie ihn am Berg liegen lassen. Mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte, stieg er vom Bach auf die Strasse. Kein Mensch weit und breit, auch keine Stimmen oder Hundegebell aus dem nahen Dorf. Das war höchst ungewöhnlich. Während er aufmerksam seine Umgebung betrachtete, schoss ihm ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf. Was, wenn der närrische Josef wegen der Türken die Wahrheit gesagt hatte? Dann konnten sie jederzeit aus dem Wald hervor brechen und über ihn herfallen.

Mit zittrigen Händen überprüfte er das Zündkraut in der Pfanne und spannte den Hahn. ´Angst hat noch keinem Mann geholfen` pflegte der Vater zu sagen, wenn sich einer zu sehr fürchtete.

Also bemühte er sich die Angst abzuschütteln, während er   hüpfend und hinkend dem Dorf zustrebte. Er kam zum ersten Anwesen. Das alte Paar, das hier gewohnt hatte, lag auf der Schwelle ihres niedergebrannten Hauses. Pfeile steckten in den angesengten Körpern und daneben lag ihr Hund mit zertrümmertem Schädel.

Es war der Anfang eines Alptraumes, der nicht wich, egal wie oft er die Fäuste gegen den brummenden Schädel schlug.

Das Dorf war voller Leichen. Überall hatte es gebrannt, das eigene Haus und die Schmiede waren im Feuer eingestürzt. Fieberhaft suchte er unter den rauchgeschwärzten Trümmern nach Eltern und Geschwistern. Schließlich entdeckte er den Vater mit blutdurchtränktem Hemd tot in der Gasse vor dem Haus der Nachbarn.

Aufgeschreckt von seinen verzweifelten Umarmungen gebot ihm der Tote Disziplin. Er sollte ihn erst bestatten und dann nach seiner Mutter und den Geschwistern suchen. Konrad gehorchte. Mit dem Spaten hub er im Gemüsegarten eine tiefe Grube aus, wusch das vom Schmiedefeuer geschwärzte Gesicht mit Wasser vom Brunnen und band die lederne Schürze ab. Die Worte des Priesters am Grab wollten ihm nicht einfallen, also stammelte er Worte des Dankes, weil es auf der ganzen Welt keinen besseren Vater gegeben hatte.

Auf der Gasse und am Dorfplatz schaute er sich jeden Toten genau an. Zu den Leichen in der niedergebrannt Kirche wagte er sich nicht. Sie waren schwarz bis auf die Zähne und hielten sich im Todeskampf umklammert.

Er humpelte rufend entlang der Palisaden um das Dorf. Keiner antwortete. Beim Nordtor entdeckte er die Hufabdrucke türkischer Pferde. Minutenlang schüttelte er drohend die Faust gegen die Grenze, bis ihm die Geste lächerlich vorkam. Was sollte ein zwölfjähriger Junge gegen diese Hunde ausrichten?

Dass es ohne den Bruder um seinen Mut nicht gut bestellt war, merkte er, als die Dunkelheit hereinbrach. Oft hatten sie miteinander über die gruseligen Dorfgeschichten gelacht. Jetzt fürchtete er sich, in die sechsundfünfzig Häuser des Dorfes mit dem brennenden Kienspan hineinzuleuchten. Seine Suche wurde immer zaghafter, bis er sie schließlich wegen einer knarrenden Tür ganz aufgab. Zusammengekauert verbrachte er die Nacht in einer Toreinfahrt.

Mit dem Morgenlicht kehrte seine Festigkeit zurück. Das Bein fühlte sich besser an, er machte weiter, wo er in der Nacht abgebrochen hatte. Mittags stellte er fest, dass alle Häuser bis auf eines geplündert und leer waren. Nun warteten noch die Leichen in der Kirche auf ihn. Am Vortag war er vor dem schrecklichen Anblick zurück gewichen, jetzt ging er so entschlossen ans Werk, dass es ihn selbst erstaunte. Er zog und zerrte an den über und nebeneinander Liegenden, als ob er die Enden eines Knoten entwirren müsste und weinte doch dabei. Viele der armen Leute waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, einige erkannte er wieder. Aber nicht Mutter, Schwester oder Bruder.

Am Nachmittag kamen kroatische Lanzenreiter aus der Festungsstadt Ogulin ins Dorf. Sie hatten eine große türkische Streifschar über die Grenze verfolgt und elf Köpfe genommen. Gefangene hatten sie bei den Türken keine gesehen.

Zunächst hielten sie Konrad für tot, weil er reglos mit starren Augen am Dorfbrunnen lehnte. Als sie bemerkten, dass er atmete, zogen sie ihn hoch und gaben ihm ein paar gut gemeinte Klapse auf die Ohren. Danach überschütteten sie ihn mit einem Eimer Wasser und Fragen. Warum hatten die Wächter auf dem Turm nicht Alarm geschlagen? Wieso hatte er den Überfall als einziger im Dorf überlebt? Konrad bekam Essen und Branntwein, damit sich die Schreckensstarre löste. Das wirkte. Er begann zu reden, aber es war nicht genau das, was die Reiter hören wollten. Vom Branntwein benebelt und froh, dass ihm jemand zuhörte, erzählte Konrad vom Schlangenbiss und zeigte sein immer noch geschwollenes Bein. Ohne den Vipernbiss wäre er jetzt mausetot, sagten die abergläubischen Soldaten und jeder legte kurz eine Hand auf das Bein, um das Glück bringende Fluidum der Schlange zu erhaschen.

Über sich sagte der Junge, dass er Breitenbrunner hieß, sechzehn Jahre alt war und mit ihnen gegen die Türken reiten wollte. Sie lachten ihn gutmütig aus.

„Lass dich werben, wenn dir ordentlich der Bart wächst!“

Weil er von einem Verwandten in Deutschland sprach, sammelten sie, obwohl sie selbst nicht viel hatten, Geld für die Reise und schenkten ihm ein erbeutetes Türkenpferd dazu.

„Reit jetzt fort, später werd Soldat!“

Konrad tat, was sie ihm hießen, weil er die freundlichen Kerle nicht enttäuschen wollte, denn eigentlich war ihm völlig egal, was mit ihm geschah. Die weite Reise war ein Kreuzweg mit wechselnden Figuren und Bildern. Er betrachtete sie und zog weiter. Manchmal weinte er, weil jede zurückgelegte Etappe ihn weiter von seinem alten Leben entfernte, manchmal schrie er seinen Hass heraus. In einem solchen Anfall streckte er das türkische Pferd nieder.

Was er einmal werden wollte, fragte ihn der Onkel bald nach seiner Ankunft in Würzburg. „Ein Mann, den die Türken fürchten“ war Konrads simple Antwort.